Der zweite Kopf des Richard Westlake – eine bemerkenswert und außergewöhnliche Darstellung von Trauer und Schuldgefühlen
“Mein Sohn (14) war beim Lesen der Inhaltsangabe auf der Rückseite des Buches Feuer und Flamme und wollte sofort mit dem Lesen des Buches anfangen.”
Frau Annett Müller, Mutter von einer Tochter (8 Jahre) und einem Jungen (14 Jahre) möchte Ihnen dieses Buch vorstellen:
Ich war überzeugt, dass er begeistert ist, da er gern auch das Außergewöhnliche mag und besondere Bücher liest. Umso mehr war ich darüber erschrocken, als er eines Abends, als wir im Bett alle noch jeder für sich ein Buch lesend, plötzlich weinend und schluchzend zu uns ins Zimmer kam, mir das Buch gab und meinte, dass er es nicht weiterlesen möchte. Es sei für ihn zu deprimierend. Im Anschluss ging er in sein Zimmer und weinte weiter. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, dass ein Buch diese Gefühle und Reaktionen bei ihm auslösen kann und habe natürlich auch mit ihm darüber gesprochen, nachdem ich ihn beruhigen konnte. Er war in etwa bis zur Hälfte/3/4 des Buches gekommen. Er gab an, dass er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass dem Jungen der zweite Kopf abgeschnitten werden soll und es schien ihm, dass absolut gar nichts diese Entscheidung rückgängig machen kann. Er hatte Angst vor dem weiteren Werdegang und wollte das Buch nicht weiterlesen.
Selbstverständlich habe ich das ganze Buch im Anschluss gelesen, um für mich festzustellen, ob das Buch hier wirklich so grausam ist, dass Kinder im entsprechend vorgeschlagenen Alter damit Probleme haben könnten. So extrem wie mein Sohn habe ich es nicht empfunden und schließe für mich daraus, dass es für Kinder, die selbst äußerst sensibel in ihrer Art sind, sicher nicht unbedingt die passende Lektüre ist.
Darum gehts:
Richard ist ein stiller 11jähriger Junge, dessen Großvater, der mit seine Eltern und ihm zusammen im Haus lebte, gerade verstorben ist. Über das Thema wird zu Hause wenig bis gar nicht gesprochen. Das Zimmer vom Opa wird zum Zimmer des Vaters; viele Dinge, die Opa gehörten, wurden vernichtet oder auf den Dachboden gelegt. Nur der alte Spiegel im Flur erinnert an ihn.
Etwa ein Jahr nach dem Tod des Großvaters passiert es. Richard wächst einfach so ein zweiter Kopf. Was zuerst aussah wie ein Infekt und eine Schwellung am Hals, entpuppt sich als etwas völlig anderes, was den Ärzten durchaus bekannt ist, aber äußerst selten vorkommt. Der Kopf wächst über Nacht, kann sprechen, hat eine eigene Meinung und ist das völlige Gegenteil von Richard. Er nennt sich Rikki und stellt alles auf den Kopf, was für Richard vorher normal war. Er kennt Richard in- und auswendig, kennt seine Geheimnisse, seine Gefühle und hat keine Scheu, diese auch offen auszusprechen. Richard und Ricky sind eine Person. Der Rikki-Kopf wird immer aggressiver und frecher, ist vorlaut, wütend, rücksichtslos und macht auch bei seinen Freunden damit kein Halt. Die Klassenkameraden, Freunde und Familie versuchen, Richard und Rikki in den Alltag wieder einzugliedern und ihn als normales Mitglied der Gesellschaft zu sehen und zu behandeln, was jedoch aufgrund der schwierigen Art von Rikki immer komplizierter wird. Außerdem stellen sich im Alltag Fragen, die Probleme heraufbeschwören: „Kann ein Schüler am Fußballturnier teilnehmen, wenn er missgebildet mit zwei Köpfen ist und damit ggf. Vorteile hätte? Ist das vielleicht der Grund, warum seine Mannschaft gewonnen hat?“
Der ehrgeizige, dubiose Arzt und Neurowissenschaftler Dr. Warren und seine Kollegen wollen Rikkis Gehirn in die Finger bekommen und beschließen irgendwann, als bestimmte Aktivitäten überhand nehmen, den Kopf abzutrennen und ihn für die Wissenschaft zu nutzen. Jegliche Risiken sind ihnen egal und werden den Eltern auch nicht übermittelt. Schaffen es Richard und Ricky vereint zu bleiben und dem Plan der Wissenschaftler zu entkommen?
Wie hat uns das Buch gefallen?
Das Taschenbuch ist schlicht gestaltet, wirkt aber durch den Titel als auch durch die abgebildeten zwei Kopfhörer an einem Kabel ungewöhnlich und macht neugierig auf den Inhalt. Im Kopf des Lesers bildet sich beim Lesen des Titels ein Bild eines Jungen mit zwei Köpfen, an einen siamesischen Zwilling erinnernd. Doch darum geht es gar nicht im Buch. Das eigentliche Thema ist die Akzeptanz, Toleranz und vor allem die Trauerbewältigung von Kindern.
Die Eltern sollten vor dem Kauf des Buches ihr Kind dementsprechend einschätzen und bei sehr sensiblen Kinder eher davon Abstand nehmen. Bei „normalen“ Kindern, die weniger sensibel auf bestimmte Dinge reagieren, dürfte es keine Probleme geben.
Der Autor behandelt auf seine eigene Art die Bewältigung von Trauer und stellt dar, wie wichtig es ist, sich seinen Ängsten zu stellen, auch mal Mut zu haben, über Probleme und Sorgen zu reden und somit diese auch bewältigen zu können. Es ist wichtig für Kinder, hier den tieferen Sinn der Geschichte zu sehen, was jüngeren Kindern allerdings wirklich schwer fallen dürfte. Der Ausgang der Geschichte erklärt den Grund, warum der zweite Kopf gewachsen ist und macht die Leser darauf aufmerksam, dass Trauer und Gefühle, die nicht verarbeitet wurden, krank machen können und das Leben eines Kindes zum negativen verändern können. Eltern wird impliziert, dass es wichtig ist, Trauer nicht unter den Tisch zu kehren, sondern darüber zu sprechen.
Die Zielgruppe der Leser würde ich nicht mit 12, sondern eher ab 14 sehen.
Autor: Andy Mulligan
Titel: Der zweite Kopf des Richard Westlake
Verlag: Rowohlt TB
Erscheinungsdatum: 01.10.2014
Umfang: 416 Seiten
Preis: 9,99 €
Zielgruppe 12-15 Jahre